Eröffnung der Wallfahrtszeit

PREDIGT ZUR ERÖFFNUNG DER WALLFAHRT 1. MAI 2024 | BORNHOFEN


TEXTE: HEBR 5,7-9 – JOH 19,25-27

Seit Mitte April gibt es eine moderne Version des Bornhofener Gnadenbildes: Das Foto einer trauernden Palästi- nenserin in dunkelblauem Kleid und ockerfarbenem Kopftuch, die ihre im Krieg getötete Nichte – eingehüllt in ein weißes Leinentuch – im Arm hält. Das Foto wurde mit dem World Press Photo Award 2024 ausgezeichnet und war in allen Medien zu sehen. Es zeigt, ohne die Gesichter zu offenbaren, Inas Abu Maamar mit dem Leichnam der fünfjährigen Saly. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester wurde sie getötet, als im Oktober eine Rakete ihr Haus in Chan Junis im Gazastreifen traf.

Das Foto berührt und geht zu Herzen. Es vermittelt die Botschaft der Sinnlosigkeit kriegerischer Konflikte und des Terrors, der den jetzigen Krieg im Gazastreifen ausgelöst hat. Der Überfall der Hamas auf unschuldige Israelis hat den jetzt schon monatelang andauernden Krieg im Gazastreifen ausgelöst, bei dem schon mehr als 30.000 Zivilisten ihr Leben verloren haben, darunter so viele Frauen und Kinder. Und auch die Bürger Israels, die weiterhin ihre verschleppten Verwandten vermissen und nicht wissen, was aus ihnen geworden ist, leiden unsäglich. Für mich ist das Foto zugleich ein unglaublich starkes Argument für den Frieden. So viel Leid, so viel Elend entsteht durch Gewalt und Gegengewalt, eine Spirale, die Leben verschlingt und Zukunft vernichtet. Als ich das Foto in meiner Tageszeitung sah, musste ich an die vielen Bilder der Pietà denken, der Mutter mit ihrem toten Sohn im Schoß, die an Wallfahrtsorten verehrt werden.

Seitdem ich 1987 für einige Monate als Kaplan an einem solchen Wallfahrtsort tätig sein durfte, frage ich mich immer wieder, warum gerade dieses Bild Menschen so anzieht. Hat es nicht eine selbstverletzende Kraft, sich ein solches Bild „anzutun”?

Offensichtlich ist es aber wie ein Spiegel, in den Menschen hineinsehen und darin ihr eigenes Leiden, ihre Not, ihre Fragen, ihre Niederlagen und auch das unausweichliche Ende ihres Lebens wiedererkennen; und zugleich sehen sie darin ein Bild göttlicher Sympathie. Denn Gott geht in Jesus den Weg des Menschen bis zum Tiefpunkt mit. Aber das ist nicht das Ende. Durchgetragenes Mitleid, hingebungsvolle Sympathie und übernommene Verantwortung werden von Gott mit Ewigkeit und Leben belohnt.

Die Spannung, die in diesem Bild zum Ausdruck kommt, kennzeichnet auch viele Marienlieder, zum Beispiel das so kostbare „Salve Regina”, das vor tausend Jahren auf der Insel Reichenau von einem Mönch gedichtet wurde. Da ist vom „Tal der Tränen” die Rede: „Zu dir rufen wir, verbannte Kinder Evas, zu dir seufzen wir, trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.” Ja, wie sehr ist das bis auf den heutigen Tag Wirklichkeit so vieler Menschen. Aber dann beschreibt es auch die große Wende, die wir erhoffen: „Und nach diesem Elend zeige uns Jesus, die gebenedeite Frucht deines Leibes.” Und das Salve Regina endet mit Anrufungen der Gottesmutter, die dem Heiligen Bernhard von Clairvaux zugeschrieben wurde. Als er bei einem Besuch im Speyerer Dom auf die wunderschöne Madonnen- statue zugegangen sei, habe er spontan dem Salve Regina hinzugefügt: „O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria.”

 

Ja, bitter-süß, so ist das Leben. Und auch der Glaube will nicht einfach über diese Spannung hinwegsehen. Da lässt sich leicht die Brücke schlagen zum Jahresthema hier in Bornhofen: „Jahr der Schokolade – Für eine gerechte Welt”. Was uns so köstlich schmeckt, ist oft – wenn nicht fair gehandelt wird – mit seinen Inhaltsstoffen Kakao und Zucker Produkt der Ausbeutung von Menschen. Die bittere Armut von Landarbeitern auf philippinischen Zuckerrohrplantagen konnte ich selbst bei einem Besuch erleben. 60 % des Kakaos werden heute in Afrika und Asien produziert – nicht selten von Kindern unter härtesten Bedingungen. Wenige weltweit organisierte Firmen haben Monopole auf die Produktion inne. Die süße Gabe und die bittere Lebensrealität der Arbeitsbedingungen von Menschen sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Ich bin sehr dankbar, dass der Förderverein von Bornhofen mit diesem Jahresthema Pilgerinnen und Pilgern einen Impuls zur Auseinandersetzung damit gibt, welchen Beitrag wir denn persönlich leisten können zu mehr Gerechtigkeit in den weltweiten Arbeitsbedingungen. Denn Friede – das ist die Frucht der Gerechtigkeit.

Auch Maria, die angesichts des Todes Jesu sprachlos geworden zu sein scheint, war nicht ihr Leben lang stumm. Als junge Frau hat sie jubelnd das Magnifikat angestimmt und darin den Gott gepriesen, der die ungerechten Verhältnisse umstürzen wird: Die Hungernden beschenkt er und die Reichen müssen leer ausgehen; die Mächtigen stürzt er vom Thron und die Niedrigen erhöht er; er denkt voll Erbarmen an das geschundene kleine Volk Israel, das er sich erwählt hat. Davon war Maria überzeugt, als sie in guter Hoffnung mit Jesus ihre Verwandte Elisabeth besuchte. Dieses Lied macht Mut zu großem Gottvertrauen. Es rechnet damit, dass diese Welt nicht so bleibt, wie sie ist. Und es stellt uns Maria als Leitfigur unterwegs zu größerer Gerechtigkeit in dieser Welt vor Augen. Und das Bild der Pietà – hier in Bornhofen mit Maria und seit kurzem mit der palästinensischen Frau aus dem Gazastreifen – ist ein unglaublich starkes Argument, dass wir uns für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen. Denn so stellen wir uns auf die Seite Gottes. Amen.

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